Samstags-Reise

Heute bringt mir die Post lauter liebenswürdige Dinge: an Stelle der Briefe Rechnungen und als Honorar für eine Arbeit, die mich vierzehn Tage beschäftigt hat, hundert Fränkli. (Ja, ja, der Schweizer Holzboden!) In munterer Laune nehme ich den Kosmischen Ratgeber zur Hand, sehe unter «Briefe» nach, wo mir «Freudige Nachricht» verheissen wird, und «Vermögen» «Gewinn». Voll Zuversicht über das Wirken der Horoskopisten, deren Vorhersagen genau so zutreffen wie die der Wettermacher, nach dem bewährten Rezept: «Kräht der Güggel auf dem Mist ...», beschliesse ich, den Tag würdig zu feiern und eine kleine Reise zu unternehmen. Nein, weder ein Weekend im Tessin noch eine Fahrt ins Berner Oberland. Allzu bekannt sind diese Stätten; mich gelüstet, ein Stückchen Schweiz zu entdecken, das von der Heerstrasse abgelegen ist, ungesehen, unberühmt, nur um so reizvoller drum. Wer kennt schon das Freiamt! Ein paar Stunden nur wird diese Samstags-Reise dauern, doch sicherlich wird sie mir Tröstliches bescheren, das mich die fürchterliche Morgenpost vergessen lässt.Also ins Freiamt! Muri, ja natürlich Muri, der wundervolle Innenraum des Klosters Muri, der ist etlichen Landsleuten, sogar Ausländern, bekannt als eine der erlesensten Zentralbauten des Schweizer Barock, und reiner Genuss ist es, ihn heute, da er mustergültig restauriert ist, bewundernd zu beschauen: das reine, blanke Weiss der Stukkaturen, in dem sich die Medaillonbilder frisch und lebendig ausnehmen, das Olivgrün der marmorierten Säulen und Pilaster, das rötlich gedämpfte Gold der Rocaillen und Tropfenmotive im bewegten Zierat der geschnitzten Altäre. Der Altäre, unter denen sich zwei seitliche befinden, die das Gebein eines Heiligen im blaugrundigen, silberumfassten Schrein so phantastisch angeordnet haben, dass daraus ein Bild von Ensor entsteht: der Totenschädel in der Mitte ist von goldenem Strahlenblätterkranz umgeben, und die seitlichen Knochen sind mit weisseidenen Schleifen und Rüschen seltsam bizarr dekoriert.Muri, dessen spitze Türme, dessen Kuppeldach mit dem weithin sichtbaren, Posaune blasenden Engel, mit den steilen Firsten mir als die Silhouette einer mittelalterlichen Stadt in der grünen Landschaft erscheint, wird heute indessen umfahren: das unbekannte Freiamt gilt es ja zu ergründen, und wer nennt die vielen Kantonsgrenzen, die wir dabei passieren! Aargau, Luzern, Zug, Zürich; verwirrlich geht's vom einen ins andere Land, und nur bleibt mir im Vorüberfahren da und dort ein Grenzstein mit dem Kantonswappen feststellbar: Tempo ist ein Hauptanliegen meines Reisebegleiters, und mir kann's recht sein bei diesem heissen Sommernachmittagswetter, das erst einen wolkenlosen Himmel bescherte, dann die dunstige Gewitterwand, die Sturm verhiess. Zu gegebener Zeit werden wir schon rasten und unser Vehikel an den Rand eines Baches stellen. So geht es erst durch die schwarze Erde des Murimooses mit den angeschnittenen Flächen der Torfstiche, vorbei an einem ruhenden Wasser, halb erweiterter Fluss ohne Strömung, halb Riesenteich, mit Booten und Seerosen, so geht es durch Dörfer in ihrer verschlafenen Mittagsstille, mit Hunden, die an der beschattet kühlen Hauswand schlafen, mit grünen Obstgärten, so geht es über weisse Strassen durch grüne Matten, durch reifende Fruchtfelder, in die sich schon ein blasseres oder tieferes Gold gelegt hat. Hügel, Mulden, hinauf, hinab, Lieli heisst ein Dorf, Birmenstorf ein anderes, mit hochgelegener weisser Kirche, Hedingen, Affoltern die weiteren Orte, angekündigt durch blaue Tafeln am Eingang. Den Uetliberg von der Rückseite zu sehen, ist zumindest ungewöhnlich; meist wird mir ja in Zürich seine Vorderansicht unverrückbar langweilig geboten.Doch immer neu ins Grün hinaus: grün und nochmals grün ist diese Landschaft, und das Grün des Hochsommers ist es, wenig variiert, satt, dicht, das sie bestimmt. Obfelden wird passiert; die Strasse senkt sich zur Reuss hinab, und an ihrem Ufer wird nun Halt gemacht. In künstlichem Bette fliesst sie hier rasch dahin, ein lichtblaues Wasser, das sich in weitem Bogen gegen einen flachen Horizont verliert: eher glaubte man sich in Holland als im Schweizer Mittelland. Eine Pappelreihe am gegenüberliegenden Ufer, eine Reihe kugeliger Weiden, deren Schatten im Silbergrün des schaumigen Laubes schwarz erscheinen; schwarz auch die kurzen Stämme. Wiesen, Gebüsch, das Ziehen der Reuss, ein paar Angler, ein paar Badende, der Gesang unsichtbarer Vögel, und weither ein unbestimmbares Rauschen; sonst nur Stille, Einsamkeit, Weite: ein Ufer, wie ich es mir für stundenlanges Hinträumen wünschte, an dem ich, losgelöst von Tag und Zeit, meinen Blick auf das Baumdickicht überm Fluss richten und verloren im Grün den steilen Gipfel einer ländlichen Behausung entdecken würde. In jenem Haus zu leben, fern von jedem Weg, von jedem Dorf, nur in Bäumen und Wiesen, wäre es nicht die Erfüllung eines Traumes? Klösterliche Zurückgezogenheit? Nur Geduld, wir werden schon noch ein wirkliches Kloster aufsuchen heute.Dunstschleier haben sich über das lichte Blau des Himmels gelegt, und im Westen, über den Kuppen des fernen Jura baut sich eine gigantische Mauer undurchdringlich grauer Wolkenmassen auf. Wird sie schnelle wandern, wird ein Regenfall uns erreichen? Intensiver duften die Gräser nun, scharf dringt der Geruch der Wasserpflanzen zu uns, und aus den Wäldern schlägt das Arom der Nadelbäume entgegen, die im heissen Mittag standen. Welche Sommerdüfte, welcher Atem der Natur! Bliebe er immer, käme nie ein Herbst, ein Winter, dessen Starre so bar jedes lebenden Hauches, bar des Blühens und des Wachsens aller Bäume und Matten ist. Doch tief will ich diese sommerliche Hitze, diese bleierne Schwere vor dem Gewitter auskosten, will das violettgraue Licht, das die prall gefüllten Kanäle spiegeln, schauen, das Schattendunkel des Erlengebüsches, das die Ufer eines Flüsschens fast vermauert, geniessen: Lorze heisst es, dem wir uns genähert haben.Da, mitten in Wäldern, eine wahre Idylle, tauchen die Dächer, die spitzen Türmchen, die Scheunen des Klosters Frauenthal auf, ein Stück Mittelalter, und eine Episode aus Narziss und Goldmund könnte sich hier abspielen: so weit in vergangener Zeit steht diese Oase der Stille. «Clausura» steht mehrmals an Gartenpforten und Hauseingängen geschrieben: strenge Abgeschiedenheit kündet dem Eindringling dieses Wort. Brauchte es seiner indessen, da doch das Kloster so von aller Welt und Zeit verlassen scheint? Ein Zisterzienserinnenkloster ist es, eine adlige Gründung aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, die, manchem politischen Sturm ausgesetzt, Werden und Vergehen weltlicher Macht erlebte, Raub und Plünderung erdulden musste, zuletzt im 18. Jahrhundert eine neue geschmückte Kirche erhielt. In sie treten wir nun ein: ein einschiffiger Saal mit Stichkappen, mit Deckenmalereien und Rokokostukkaturen tut sich auf, erleuchtet durch das Grün der Bäume vor den Fenstern. Eine tief in den Raum gezogene Empore mit zwei Reihen Gestühl dient den Nonnen. Die Mitte der Balustrade hält ein Kruzifix, zu dessen Seiten die Plastiken zweier kleiner goldener Heiligen stehen, ihrerseits von lilablassen Opalinevasen und weissen Kerzenstöcken flankiert. Hinter dem Chorgitter drei Altäre, mit roten und rosa Geranien ländlich geschmückt. Seitlich der Thron der Aebtissin, von ländlichem Rokoko, doch um so reizvoller nur in seiner Simplizität. Ungern trenne ich mich von diesem dämmrig stillen Raum; gerne würde ich die Orgel versuchen, doch sie ist den Nonnen vorbehalten. So heisst es weiterziehen, in den grauen gewittrigen Dunst, in die Nähe der Reuss abermals, an ihre grünen Ufer, über die Felder dieser abendlich geweiteten Freiländerlandschaft. Erstdruck in den Basler Nachrichten vom 11.7.1950