Nichts verlockender als die Auslagen der Pariser Pâtissiers: glasig klar die goldbraun transparenten Zuckergüsse über jenen Chou à la crème, aus denen, sticht das Gäbelchen hinein, zart neapelgelb schaumige Masse quillt, Mund wie Auge gleicherweise ergötzend; matt schimmern die rosigen, veilchenfarbenen, grünen Glasuren auf all den zierlichen Kostbarkeiten, die im Fenster eines der Pariser Salons de Thé aufgebaut sind, jener Lokalitäten, durch die entweder das orkanartige Zwitschern menschlicher Stimmen weht oder aber die so vornehm sind, dass niemand sie aufsucht. ——Besonders lecker erscheinen solch unerreichbare Dinger, wenn man hungrig ist: es geht auf 2 Uhr nachmittags, wartend defiliere ich vor den Schaufenstern eines Pâtissiers, jeden Augenblick kann ja der Pneu des Vehikels aufgepumpt sein, auf dem wir, drei Herren samt Hund, zweisitzig wegrollen wollen. Drei Herren mit Hund sind in Paris zweisitzig toleriert; so fahren wir, genau zur Zeit, da auf den grossen Adern der Nachmittagsverkehr einsetzt, durch die Stadt, tasten uns zwischen Taxis und Lastwagen über das Boulevard Sébastopol vor, jene originelle Strasse, die einem orientalischen Bazar weit eher gleicht als einem Pariser Boulevard; denn alle Geschäfte spielen sich auf dem Trottoir ab, man kann feilschen und markten, als wär’s in der Levante.Die Ausfahrt aus einem der Pariser Tore ist etwas vom spannendsten: Vorstadtstrassen, unendlich lang, ziehen sich hin, bis die Häuserblöcke weiter auseinandertreten, bis eine letzte Metrostation den Ring der Stadt ankündet, bis sich Industriebauten, Pflanzgärten, Geleiseanlagen der Ceintüre, Kanäle weitflächig öffnen, die Strasse zu einem breiten Band wird, das schnurgerade, doch immer wieder von Vorstadthäusern umsäumt, in die Landschaft hinausführt. Porte de la Villette haben wir durchfahren, und nach ungezählten Kilometern die immensen Felder des Flughafens von Le Bourget erreicht. Weiter, weiter! Hunger zählt heute nicht, und wenn wir im Lichte des frühen Nachmittags Chantilly sehen wollen, gilt es auf ein Mitagessen vorerst zu verzichten. Fern seid ihr, schmelzende Petitfours am Boulevard Saint-Germain! Durch wellige Ebenen gehts hier, über grosszügige, von alten Ulmen umsäumte Landstrassen; Dörfer werden passiert, kleine Ortschaften mit ihren Bistrots, in denen vielleicht jenes ungeschmückte Stück Braten zu essen wäre, Pièce de résistance, neben dem, wie dies nun für Frankreich klassisch ist, die Pommes frites, die grasgrünen Kresseblätter nur als Beigabe wirken. Nein, es wird weitergefahren. Nur irgendwo an der Landstrasse, weit draussen, taucht das langgestreckte, niedrige, im französischen Heimatstil zurechtgemachte Wirtshaus auf, Riegelbau, karierte Vorhänge: wie anders wär’s möglich! Auch nachmittags um drei bekommt man hier zum Eingang etwas kalte Hasenpastete, ein Carré de porc mit Salat, ein Stück Käse und einen schwarzen Kaffee.Dann aber erscheint der Wald von Chantilly, der Turm der Kathedrale von Senlis ragt fern auf, in den grauen Mauern von Höfen und Häusern, in den runden, wie zufällig sich von Kirche zu Kirche ziehenden Gassen dieser träumenden Stadt, suche ich den Geist der Malerin Séraphine, die hier ihre glasbildhaften, mittelalterlich mystischen Blumensträusse, ihre Weinstöcke malte, die von Wilhelm Uhde entdeckt wurden, jenem Paris und die französische Provinz liebenden Deutschen, der, einer der ersten Sammler von Werken des Zöllners Rousseau und Picassos, lange in Senlis lebte. Wundervoll die Kathedrale, still, verschlossen, fast streng die Fassade mit ihren ungleichen Türmen; aufbrechend in reichster, zugleich feinster Gotik aber das Querschiff mit seinen wundervollen Portalen, von denen das eine den Platz bestimmt, das andere auf die klösterliche Stille alter Gärten und Hinterhöfe geht. Und wie feierlich das Innere; gelbgrün bricht sich das Nachmittagslicht, das durch hohe seitliche Fenster einfällt, auf dem zierlichen Masswerk der Emporenbrüstungen.Durch eine Gartenlandschaft, die im herbstlichen Braun ihrer alten Bäume, unter dem lichten Himmel dieses Nachmittags aufklingt, nach Chantilly: Stadt des Pferdesports durch ungezählte Generationen. Da tritt ein Mädchen mit einem Stiefelpaar aus der Gartentür, Zeichen der Rennen, die nun rund um Paris abgehalten werden. Parkhafter, bei aller musischen Gelockertheit, wird die Landschaft, schon schimmert ein Stück Wasser durch das Geäst, und plötzlich halten wir auf einer schmalen Brücke an, die den Blick auf seenhafte Teiche und Kanäle gibt, die sich in ungeahnte Fernen hinziehen. Ein paar Schwäne auf diesem weiten Wasser, wer wollte sie missen in diesem Park, der die Allüre der grossen Anlagen der Ile de France besitzt, indessen den Charme gewisser ländlicher Intimität wahrt. Goldig klar noch der Himmel, unter dem sich diese unermesslichen, von Sternstrassen in allen Richtungen durchzogenen Wälder hinstrecken. Bald wird das Gold gegen Westen, über den blaugrünen, hellen Wiesen sich vertiefen, wird einem rosigen Hauch vorangehen, wie ihn nur die unendliche Milde dieses Landstriches erlaubt. Rosig schimmert nun auch die kühle, fast nüchtern klare Fassade des Chateau d’Enghien auf, in dem die Prinzen Condé ihre Gäste unterbrachten bei den illustren Festen, die hier den Königen Frankreichs geboten wurden.Stumm liegt das alte und das neue Schloss inmitten seiner Gärten, seiner Wasserflächen, heruntergelassen die weissen Storen der riesigen Fenster, geschlossen auch das goldene Gittertor mit den Lettern “Musée Condé”. So betont geschlossen für den Winterschlaf, wie nur französische Provinzmuseen es sein können. Ein Täfelchen besagt, dass gestern der letzte Besuchstag war und dass zu Ostern die Sammlungen wieder sichtbar sein werden. Gleich vor verschlossener Paradiespforte stehen wir vor dem Portale: unerreichbar wie die Törtchen hinterm Glas seid ihr, ihr zauberhaften Miniaturen von Fouquet, die wir sehen wollten. Auch die langen Blicke, die wir über die grandseigneurale Auffahrt, die Treppen werfen, erweichen die Frau im Pförtnerhause nicht, die unter der Tür erscheint und erklärt, was wir schon wissen. Weder auf seriöse Bitten noch auf Witze lässt sie sich ein, nur einmal mehr, wenn auch bedauernd-freundlich, leiert sie ihr Sprüchlein vom kommenden Osterfest herunter.Was bleibt uns, als sehnsüchtige Blicke über die glasklaren Wasser des Schlossgrabens, der Kanäle und Teiche zu werfen, als umzukehren, über kühle Matten zu gehen, auf denen nun Gruppen herrlicher Pferde geritten werden. Tummelplatz auch für den schwarzen Hund: hin und her, hin und her tobt er und jagt, eine wollige Kugel, blindlings dem geworfenen Holze nach. Abendlicher immer das Licht über dem Wald am sanften Horizont; in der Hauptstrasse der Stadt sind die ersten Lichter angezündet, Tag und Nacht halten sich im weichen Dämmerlicht die Waage, und während der Himmel die schönste Färbung annimmt, treten wir in den kleinsten Salon de Thé von Chantilly ein und nehmen am einzigen Tischen Platz. Also sollte ich heute doch noch zu einem Chou à la crème kommen? Basler Nachrichten 22.11.49